Norbert Lennartz:
Warum ist Sezession von Gesellschaft und
Staat wichtig?
Und warum bedeutet Staat ohne
Austrittsmöglichkeit das Ende der menschlichen Zivilisation und Entwicklung?
Man muss sich
klar machen: Evolutionsgeschichtlich ist der Staat eine junge
Erscheinung. Die meiste Zeit, in der der Mensch die Erde bevölkert hat,
lebte er in kleinen Gruppen, verstreut über ein meist großes Gebiet.
Größere Menschenansammlungen und damit nennenswerte politische
Organisationsformen waren erst mit bestimmten technologischen
Errungenschaften wie Ackerbau, Viehzucht, Bewässerung, Transport,
Fabrikation etc. möglich.
Vor dieser Zeit,
also der Zeit für die man vorzugsweise den Begriff »Cro Magnon« für den Menschen verwendet (d.h.
für den noch genetisch gleichen Vorläufer des modernen Menschen vor mehr als
10.000 Jahren) und die Völker i. d. R. nur aus Kleingruppen bestanden, konnten
deren Anführer oder Familienoberhäupter, Häuptlinge, Clanchefs, Chamanen
oder Weisen nur begrenzte Macht ausüben. Eine anonyme Gesellschaft gab es
schon so gut wie gar nicht.
Eine Teilung von Gruppen war jederzeit möglich,
wenn die Anführer mit ihrer Gefolgschaft nicht die Bedürfnisse der
Opposition befriedigen konnte oder wenn die Gruppe schlicht zu groß geworden
war, um sich aus dem umliegenden Gebiet zu ernähren. Was folgt ist eine
natürliche Separation der Gruppen in neue Kleingruppen, die
auseinanderschwärmen, und ein anderes möglichst ungenutztes Gebiet
bevölkern. Dies war notwendig, um die Ernährung aller sicher zu stellen,
aber es war auch ein Instrument gegen Bevormundung und Ausbeutung und damit
auch ein Instrument für den Frieden und Zusammenhalt in der Gruppe.
Schauen wir uns dagegen heute Staaten an, dann
ist festzustellen, dass eine Teilung von sich auseinander gelebten
Menschengruppen nicht möglich ist. Einzelne Anführer, die man auch Herrscher
(oder später regierende politische Parteien, Funktionäre und deren
Bürokratie) nennen kann, da sie einen ausgedehnten Einfluss ausüben,
bestimmen die Regeln in einem staatlichen Gebiet. Ein Ausscheiden ist nur in
einen anderen Staat mit anderen Regeln einer anderen staatlich beherrschten
Struktur möglich, aber es ist nicht mehr möglich im selben Volk eine neue
Gruppe mit neuen eigenen Regeln zu schaffen; es ist nicht mehr möglich sich
»einen neuen Anfang zu suchen«, wie der Cro Magnon gesagt hätte.
Was bedeutet das für das heutige menschliche
Zusammenleben?
Die Frage wird leider zu selten gestellt, aber sie ist von
größter Wichtigkeit. Das Ende der Möglichkeit der Separation - wie es
Kleingruppen vorgenommen haben und vornehmen konnten, bei gleichzeitigem
Anwachsen der Bevölkerung und gegenseitigen Konkurrenzdruck - machte es
möglich, dass sich die Macht auf bestimmte Anführer, Herrscher und letztlich
auf bestimmte staatliche Strukturen konzentrieren, denen ein wichtiges
Ventil fehlt, das es im Laufe der Menschheitsgeschichte immer gegeben hat.
Aus dem Fehlen dieses natürlichen Mechanismus folgt logisch, dass sich mit
der Zeit ganz andere Strukturen (vor allem der Ausbeutung) bilden, deren
Entwicklung solange anhält, bis ein entsprechender Prozess der breiten
Unzufriedenheit tatsächlich Rechnung trägt. (Ein Aufblähen und Platzen von
Blasen - dieser Begriff ist nicht nur auf staatlich geführten Kapitalmärkten
anwendbar, sondern im größeren und langfristigen Stil auch auf staatliche
Strukturen insgesamt.) Es entstanden Sklavenhaltergesellschaften,
imperialistische Nationalstaaten, die Kriege untereinander führten oder in
politischen System unterjochten und als die Zeit des Feudalismus überwunden
schien, entstanden ab dem 19. Jahrhundert so genannte Sozialstaaten mit
ausgeklügelten zwanghaften Finanzierungssystemen, die heute dazu verwendet
werden, den Menschen ein möglichst hohes Steueraufkommen abzunehmen, um die
staatlichen Strukturen aufrecht zu erhalten und damit ein Heer der
herrschenden Klassen zu ernähren.
Bezeichnenderweise weiß heute in den
üblichen Medien niemand mehr den Freiheitswert niedriger Steuern zu
schätzen. Stattdessen wird der mögliche Steuerausfall für den Staat als
wichtiges Argument benutzt. Dass diese Systeme längst selbst marode geworden
sind, ist eine logische Folge des gesamten Sozialisierungsprozesses, dem ein entscheidendes Ventil fehlt, nämlich der Separation bzw. Sezession.
Nun könnte man fragen, warum haben die Menschen
sich das Ventil nicht geschaffen oder aufrecht erhalten, wenn es doch
notwendig war und ist? Waren die Menschen zu dumm? Darauf muss man
antworten, dass es a) nicht im Sinne der herrschenden politischen Strukturen
ist, also der Staaten, wenn sich die herrschenden Klassen einmal ein
stetiges Einkommen aus Ausbeutung geschaffen haben, dieses wieder
aufzugeben, indem sie Menschen und Gruppen in die eigene Freiheit entlassen
und sich damit der von ihnen erlassenen Ausbeutung entziehen.
Man könnte weiter fragen, wieso die Menschen
sich das gefallen lassen und warum es den Herrschenden möglich ist in ihrer
Methode fortzufahren, ohne dass die Masse sie hinterfragt. Diese Rätsel
müssen damit beantwortet werden, dass b) die politischen Prozesse keiner
Wissenschaft folgen, sie spiegeln sich demnach auch nur im Unterbewusstsein
der Menschen wieder und man beugt sich dem Status quo einer politischen
Struktur, bis dass jeder an die Legitimität und Richtigkeit des Systems
glaubt. Es wird einfach nicht mehr darüber gesprochen. Da c) politische
Veränderungen nur über den Staat funktionieren können, das Spektrum der
möglichen Veränderungen über den Staat aber begrenzt ist und Separation und
Sezession dabei
»insgeheim« ausgeschlossen sind, macht es auch keinen Sinn
aus der Bevölkerung heraus Separation und Sezession anzustreben. Und aus der
Regierung heraus macht es noch weniger Sinn, da dies nicht der Weg sein
kann, wie Machtansammlungen entstehen, die an die Regierung führen.
Aus Sorge an eine zukünftige menschliche
Entwicklung und aus Sorge an der persönlichen Freiheit der Menschen muss
daher die Frage des notwendigen Ventils der politischen Prozesse der
Sozialisierung und Verstaatlichung neu aufgeworfen und aufgegriffen werden,
auch wenn vielen Menschen dieser Gedanke aus Gründen der Gewohnheit an
Nation, Recht und Ordnung zu wider zu sein scheint und wenn sie darin einen
Angriff auf die Grundlagen der Zivilisierung, der rechtlichen Ordnung, der
Wirtschaftlichkeit des Staates, des sozialen
Friedens oder des allgemeinen Wohlstands sehen. Dennoch gibt es keinen
anderen Ausweg, da die Möglichkeit des »Opting-out« ein natürlicher Vorgang
ist, der nicht aus einer natürlichen Ordnung verbannt werden kann, ohne in
Selbstwiderspruch mit der Natur des Menschen und seiner Bedürfnisse zu
geraten.
Wie schaut es also abgesehen von der
politischen Inkorrektheit von Separation und Sezession aus? Ist dies
wirklich ein Vorhaben von Spekulation, von unendlichem Aufwand, von Chaos
oder Utopie? Beim zweiten Hinsehen ist tatsächlich das Gegenteil der Fall.
Alle politischen Maßnahmen und Reformen sind schwierig in der Umsetzung -
nicht aber die Umsetzung eines Rechtes auf Sezession. Es handelt sich nur um
ein einzelnes Gesetz oder Gesetzespaket, das zugelassen werden müsste.
Nichts wäre einfacher (der entsprechende Wille vorausgesetzt) und in der
Wirkung sicherer umzusetzen, da das Ziel der Freiheit der Menschen
unmittelbar umgesetzt werden kann. Es entsteht auch kein vermeintliches
Chaos, da bei Einhaltung der Gesetze im verbleibenden Staat, keine Unordnung
entsteht. Es wird sogar Konfliktpotential genommen. Dass die Freiheit der
Menschen vielleicht nicht einfach ist, mag sein, aber das ist kein Aspekt
der den Staat weiter sorgen muss, sondern nur jene Menschen, die diesen Weg
gegangen sind und die ihn aber als Chance begreifen und nicht als Problem.
Darüber hinaus hätte das Recht auf Sezession aber auch eine bedeutende
Rückwirkung auf den verbleibenden Staat, denn wenn dieser sich plötzlich
selbst »Konkurrenz« schafft, dann muss er selbst den Wettbewerb zwischen den
verschiedenen Sezessionsgebieten aufnehmen und standhalten und er muss es
seinen Bürgern so gemütlich machen, dass sie nicht an Sezession denken, wenn
der Staat das Ziel des »Gemeinwohls« tatsächlich ernsthaft verfolgt.
Unter dieser Prämisse würde der Wille an
notwendigen Reformen im Staat entscheidend zunehmen und unter ganz anderen
Handlungsreichweiten diskutiert werden können oder es würden alternativ dazu
oder zusätzlich viele Gruppierungen von Austrittsgebieten entstehen, die
nicht nur dem Reststaat überlegen sind, sondern auch im Wettbewerb
gegeneinander die besten Formen des Zusammenlebens ausprobieren und finden
werden. Sezession und Separation sind also nichts, wovor man Angst oder
Skepsis haben muss, sondern sind im Gegenteil die einfachste (weil
natürlichste) Maßnahme, die man gegen einen »überbordeten« Staat, der
unbeherrschbar, korrupt, unreformierbar, verschwenderisch und ineffizient
geworden ist, anwenden muss, und Sezession wird gleichzeitig genau das
aktive Handeln der Menschen zu Wirtschaftlichkeit und Vernunft auslösen, das
am Ende auch nur allein sozialen Frieden schaffen kann.
Nun werden viele Skeptiker einwenden, dass eine
Schar von Millionen Politikern, Bürokraten und Sozialwissenschaftlern nicht
irren kann, die nichts anders tun, als sich um das »Wohl der
Gesellschaft«
zu kümmern. Aber zunächst einmal ist dies eine Art Fortschrittsglaube, der
darin besteht, dass die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft sich
rational nur nach vorne bewegt. Diese Illusion wurde in der Geschichte schon
zu oft widerlegt und hat gleichzeitig eine immense soziale Last produziert,
denn die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Irrtümer - genau
wie die Evolution selbst eigentlich eine Geschichte der Irrtümer ist. Es
gibt niemanden, der die Evolution plant; es gibt keinen Gott, der seine
schützende Hand darüber hält. Evolutionäre Entwicklung ist Versuch und
Irrtum. Die rational geplante Evolution des Menschen ist vom Menschen noch
nicht wirklich angegangen worden. Eher wird sie aufgehalten. Das sieht man
z.B. an Verboten der wissenschaftlichen Forschung mit menschlichen
Genmaterial und der Sozialstaat, der eher die Unproduktiven einer
Gesellschaft hegen soll und damit theoretisch eher für die Vermehrung der
genetisch Schwachen sorgt, anstatt für ein Durchsetzen der angepassten
gesünderen Genträger, spricht auch nicht dafür, dass der Mensch gelernt
hätte mit seiner eigenen biologischen Basis, das Wertvollste einer jeden
Spezies, rational umzugehen. (Damit ist keine Befürwortung von
Sozialdarwinismus gemeint, sondern nur die Ablehnung dessen, was
nachweislich falsch und unnatürlich ist.) Stattdessen wird heutige
Sozialisation oft durch politisches kurzfristiges Denken bestimmt
(Stichwort: Zeitpräferenz) und auf Pump, d.h. auf Kosten anderer, die erst
noch diese Leistung erbringen müssen (wie künftige Generationen), weil
politische Strukturen es erlauben, soziale Kosten auf genau auf jene
abzuwälzen, die sich nicht wehren können - sprich: denen die fairen
Möglichkeiten eines Opting-out fehlen.
Ferner wird übersehen, dass es eine breite
Befürworterschaft des Sezessionsrechtes auch in der Wissenschaft gibt. Die
Österreichische Schule steht insgeheim heute komplett für ein solches Recht.
Es können Dutzende Gelehrte aus allen wichtigen Bereichen aufgezählt werden,
Ökonomen, Juristen, Philosophen, Soziologen, Historiker, die ein Recht auf
Sezession befürworten würden oder schon implizit oder explizit empfohlen
haben, aber ebenfalls vor der Übermacht des Status quo resignieren, da die
Macht nur das auf die Agenda bringt, was politisch populär ist. Aber es
liegt bei allen Menschen, das hervorzubringen, was sie wirklich für richtig
erachten, anstatt in einer ewigen Schweigespirale zu verweilen.
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